Wir haben unser Herz an Tallinn verloren: ein noch unterschätztes Schmuckstück an der Baltischen See. Hier kommen Tipps zum Trip für Foodies, Abenteurer und Ästheten aller Art.
Was macht Tallinn in einem Wohn- und Designmagazin? Die Frage schien auch uns berechtigt, bis vergangenes Jahr folgender Fun Fact ins Postfach geworfen wurde: Jeder fünfte Bewohner Tallinns ist Designer oder Architekt. Also rund 86 000 Beschäftigte auf nicht mal eine halbe Million Menschen. Das ist enorm, geradezu unvorstellbar, schlussfolgerten wir – und muss Spuren hinterlassen.
Dass diese Stadt sich nicht nur schön, sondern spannend präsentiert, ist auch ein Resultat ihrer extrem bewegten Geschichte, die mit der Eroberung durch den dänischen König Waldemar im 13. Jahrhundert begann. In wechselndem Ausmaß wurden die hier lebenden Esten von Deutschen, Schweden und Russen regiert oder drangsaliert, bis schließlich 1991 die Republik Estland ausgerufen wurde. Architektonisch gesehen ist das Ergebnis ein erstaunlicher Mix aus mittelalterlicher Altstadt, schwedischen Holzfronten und russischem Brutalismus oder Plattenkomplexen, dazu modern-gläserne Hochhaus-Asymmetrien wie etwa im Rotermann-Viertel.
Tallinn Design #1: Die Altstadt
Der Gang durch die stadtmauergesäumte Altstadt fühlt sich mal mittelalterlich an, mal skandinavisch – was sicherlich auch an der estnischen Sprache mit ihren kurios vielen Vokalen und doppelten Umlauten liegt. Nicht nur Flaneure, sondern auch Foodies werden hier gute Zeiten verbringen: Die kulinarische Szene Tallinns ist kreativ, die Zutaten sind auffällig frisch, variantenreich, regional und noch dazu schön angerichtet. Um schlecht zu essen, muss man wirklich Pech haben.
Einige der interiordesigntechnisch spannendsten Restaurants der Stadt gestaltete die interdisziplinäre Gestalterin Marit Ilison, deren Geschichte mit Couture-Mänteln aus alten Sowjetdecken ihren Anfang nahm. Unter anderem stammen das Bistro Päris, La Pizzeria di Orm Oja, Lee Restoran oder seit Dezember ’23 ganz neu die Karaoke Bar House 10 – alle in der Altstadt aus ihrer kreativen Feder.
Tallinn Design #2: Das Rotermann Quartier
Das Rotermann-Viertel am östlichen Rand der Altstadt beeindruckt vor allem durch verspiegelte Bauten und die futuristische Aura, die sie verströmen. Shopping-Tipp: das Tallinn Design House mit Mode, Schmuck, Keramik und Accessoires von lokalen Gestaltern. Gleich um die Ecke: die Røst Bakery mit gutem Kaffee und unwiderstehlichen Cinnamon, Kardamom oder Seasonal Buns in der Auslage. Ein sympathisches Detail, das sich durch die gesamte City zieht: Lichterketten, die sich zwischen Häusern aufspannen.
Eine gute Reisezeit für Designfans ist der Herbst. Hier findet die Architekturbiennale TAB statt (Programm in Englisch, September bis November) wie auch das Tallinn Design Festival Desainiöö, eines der größten internationalen Events dieser Art im Baltikum (16. bis 22. September).
Tallinn Design #3: Põhjala Tehas
Während sich ein Flaniergang durch die Altstadt so pittoresk anfühlt, wie man es vermuten würde, sind es vor allem die einstigen Industrie-Bausätze, die sich die designaffine Bohème erschlossen hat. In den Hallen von Põhjala Tehas, einer ehemaligen Gummifabrik am Ende der Kopli Tramlinie, sammeln sich Gestalter aller Art in ihren Studios, dazu gibt’s standesgemäß lässige Cafés und Restaurants. Die Leipziger Baumwollspinnerei lässt grüßen.
Bei einem Besuch des recht roughen, weitläufigen Werkgeländes fällt es nicht schwer zu verstehen, was den Reiz dieser Community ausmacht. Die Facebook-Seite informiert über Events und Open Studio Days, etwa während der Designmesse Desainiöö. Wer zwischendurch vorbeischaut, sollte sich im Bookshop Read das wandfüllende Bücherkunstwerk anschauen, am besten bei einem schön starken Flat White des Café Kiosk No.3, das mit Tresen und Vintage-Möbeln hier eingezogen ist.
Tallinn Design #4: Telliskivi Creative City
Nicht weit von hier, zurück in Richtung Innenstadt, findet sich die Telliskivi Kreativquartier. Auch viele alte Mauern, aber bereits weiter durchdekliniert und damit „sauberer“, mit mehr Shopping-Möglichkeiten und der berühmten Fotografiska in seiner Mitte. Mit den umgenutzten Ostbauten und großflächigen Graffitis, Streetfood und Restaurants erfüllt es alle Erwartungen, die man an einen solchen Ort haben kann. Selbstversorger und Streetfood-Liebhaber können sich in der schon architektonisch sehenswerten Indoor-Markthalle Balti Jaama Turg eindecken. Oder nach einem Besuch der Fotografiska im zugehörigen verglasten Rooftop-Restaurant einchecken. Mit seiner Zero-Waste-Küche hat sich Chef Peeter Pihel einen grünen Michelin Stern erkocht. DECO-Tipp: Der Ausflug zum Rooftop lohnt sich auch nur auf einen Apéro und den spektakulären Rundum-Blick auf die Stadt.
Tallinn Design #5: Noblessner Seafront
Und weil sich diese Stadt in Katzensprüngen erkunden lässt, hält nur fünf Fahrminuten entfernt das Hafenviertel Noblessner die architektonische Moderne dagegen. Seine größten Schau- und Erlebniswerte: die Proto-Entdeckungsfabrik (vor allem bei Familien beliebt), Restaurants wie das Lore Bistro (auch dieses Schmuckstück wurde von Marit Ilison gestaltet) oder das Kai Art Center.
Im Iglupark mit Ostseeblick, direkt an der Noblessner Promenade, könnte man auch arbeiten oder übernachten – das beliebteste Spektakel aber sind die privaten Saunahütten, die sich stundenweise mieten lassen. Wird hier gerne erwähnt: David Beckham war so begeistert, dass er sich sein eigenes Sauna-Iglu für den Garten orderte.
Übernachten
Erst 2023 eröffnete Accor das 4-Sterne-Hotel Oru Hub nahe der Küstenpromenade am Stadtstrand und der Konzertarena Lauluväljak. Nicht ganz zentral, aber vom Interiordesignstudio Aeris mit viel hellem Holz, Wiener Geflecht und Stoffen zum urbanen Wohlfühlort gestaltet. Dem Hub im Namen wird die untere Ebene gerecht, die Lobby, Restaurant, Lounge und Co-Working-Area vereint. Wir empfehlen den Deluxe Room (ab 100 Euro/Nacht inklusive Frühstück) oder größer zu buchen. Wunderbare Idee direkt nach dem Check-in: Im hoteleigenen Bistro entspannt lunchen. Getestet und für gut befunden: die zarte Ente (Roasted duck breast, carrot-sea buckthorn cream and cherry-lilac sauce).
Wer gerne zentraler und luxuriöser nächtigt, sollte sich das 5-Sterne Hotel Telegraaf mit Rooftop-Spa anschauen (ab 134 Euro/Nacht).
DECO-Tipp: Ein Citytrip nach Tallinn sollte über das klassische Wochenende hinausgehen – drei Nächte sind Minimum für die entspannte Erkundung. Wer länger bleibt, findet unweit der Hauptstadt das Kontrastprogramm inmitten der baumreichen Landschaft. Westlich und östlich verstecken sich verspiegelte ÖÖD Cabins unter Wipfeln, alle in Laufdistanz zur Küste (ab 145 Euro/Nacht). Eine knappe Stunde Fahrt ins Landesinnere wiederum liegt das wunderbare Maidla Nature Resort (ab 400 Euro/Nacht). Gute Idee von hier: die Hochmoore des Soomaa-Nationalparks entdecken.
Outdoor-Highlights
Die Esten lieben ihre Moore, und was man liebt, verdient ein Sprichwort: „Into the bogland they go, to free their mind and find their soul.“ Was recht platt klingt, lässt sich auf den Bohlen des Viru Bog Nature Trails wandelnd begreifen. Mit stetem Blick auf die sanfte, zauberhafte Vegetation fliegen die Gedanken ganz von selbst. Fazit: ein unbedingt empfehlenswerter Tagesausflug von der Metropole, der sich mit ländlichen Sehenswürdigkeiten oder einem entspannten Roadtrip nahe der Küste kombinieren lässt – durch wehende Wälder mit skandinavisch rot getünchten Häuschen.
Und als gäbe es der Aktivitäten nicht genug, lädt auch der Stadtstrand in den Sommermonaten zum entspannten Päuschen ein. Hier wie auch an Plätzen im Zentrum gut vertreten: öffentliche Sitzgelegenheiten zum Verweilen, Schauen und Kopfdurchlüften.
Übrigens: Neben dem norwegischen Bodø und Bad Ischl im Salzkammergut, wurde die estnische Stadt Tartu zur Europäischen Kulturhauptstadt 2024 ernannt.
Mehr Reise-Infos gibt’s auf der ungewöhnlich gut und informativ gestalteten offiziellen Website des Tourismus-Amts: