Wie verändert sich die Definition von Wohnen? Und was haben die Nachbarschaft und unser Mindset damit zu tun? Eine Auseinandersetzung mit Megatrends, Phänomenen und einem neuen Wohnkonzept.

Leben im Coodo, ein Traum für alle, die sich nach ländlicher Idylle sehnen. Doch die „Pull-Faktoren“ der Stadt (Arbeitsplätze, individuelle Freiheiten und Diversität) scheinen eine stärkere Magnetwirkung zu haben

Was sind Megatrends?

Ein Trend ist dann dem Präfix „Mega“ würdig, wenn er vier zentrale Merkmale erfüllt. Sein Zeitraum umfasst 50 Jahre, alle Lebensbereiche sind betroffen, es handelt sich um globale Phänomene hoher Komplexität und er ist „das konzentrierte Ergebnis systematischer Beobachtung, Beschreibung und Bewertung neuer Entwicklungen in Wirtschaft und Gesellschaft“, so Harry Gatterer, Geschäftsführer des Zukunftsinstituts. Anhand einer Megatrend-Map wird deutlich, welche Wirkungen die einzelnen Strömungen aufeinander haben, wie sie sich gegenseitig beeinflussen oder verstärken und welche Parallelen und Überschneidungen es gibt.

Die Megatrend-Map des Zukunftsinstitutes

Das Zukunftsinstitut hat insgesamt 12 Megatrends definiert. Die Megatrend Urbanisierung, in die auch das Thema „Wohnen“ hineinspielt, wird unter anderem direkt oder indirekt von den Trends Gesundheit, Mobilität und Sicherheit beeinflusst. Beim Wohnkonzept der Zukunft werden beispielsweise Entwicklungen zu Co-Living, Micro-Housing und Vertical Villages – also Leben, Arbeiten und Shoppen in einem Komplex – analysiert.

Neue alte Muster

Während der Pandemie wurde das Zuhause zum wichtigsten Rückzugsort. Dennoch ist „Cocooning“, im Sinne von zuhause einigeln, eher ein vorübergehendes Phänomen und kein Mega-Trend. Der Großteil der Gesellschaft wird einen verstärkten Drang verspüren, nach draußen zu gehen und wieder zu reisen. Was jedoch bleiben wird, ist, dass das Zuhause als Basis eine höhere Bedeutung bekommt. Und das auch in Bezug auf den Arbeitsplatz. Dadurch ändern sich die Einrichtung, die Aufteilung des Wohnraums in abgrenzbare Zonen, der Anspruch an Mobiliar und Räumlichkeiten sowie das Design. Dass die Interiordesign-Branche davon profitiert, ist deutlich spürbar.

Das Büro kann auf kleinstem Raum eingerichtet werden. Bild: Montana
Der Schreibtisch wird Teil eines Regalsystems. Bild: Muji
Luxus: Ein abgetrenntes Arbeitszimmer. Bild: BoConcept
Arbeitsplatz für Zwei dank cleverer Bürolösungen von Chat Board
Professionelles, agiles Arbeiten geht auch von zuhause aus. Die Whiteboards und Tafeln von Sigel sind treue Wegbegleiter

Der Stellenwert der Küche im Wohnkonzept der Zukunft

„Aktuell entwickelt sich die Gesellschaft hin zu einer Wir-Kultur, die auch von der jungen Generation getragen wird. […] Das Gemeinsame, das Kollektive wird immer wichtiger. Es geht nicht um Solidarität im Großen und Ganzen, sondern eher um individuelle Gruppen, die sich stark aufeinander beziehen und miteinander vernetzt sind. In der Soziologie spricht man in diesem Zusammenhang auch von „Neo Tribes“. Es könnte z. B. in ein paar Jahren normal sein, dass nicht eine Familie eine Küche kauft, sondern dass zusätzlich noch weitere vier oder fünf Leute in dieses Thema involviert sind, weil die Küche gemeinsam genutzt wird. […] Vielleicht wird es auch andere Kauf- oder Mietkonzepte geben“, so Harry Gatterer. Er ist außerdem davon überzeugt, dass mit der klassischen Funktion der Küche in Zukunft experimentiert wird.

Die Feng Shui-Küche von Designer Alexandra Ogonowski und Nordiska Kök geht fließend in das Wohnzimmer über, wird aber selbst zum sozialen Zentrum

Die Veränderung von Design

„Design und jede Art von Produktentwicklung wird zunehmend einer Idee von Universal-Design unterliegen. Das heißt, dass es vermehrt Produkte geben wird, die nicht etwa nur für junge oder alte Menschen entworfen werden. Es wird also nicht das Alter des Käufers sein, dass die Zielgruppe eines Produktes definiert, sondern es sind die Ansprüche an das Produkt selbst. Diese werden sich mehr auf dem Thema Minimalismus aufbauen“, so Gatterer im Gespräch.

Big Darling Pink von Swedish Ninja ist praktische und platzsparende Lampe und Garderobe in einem

 

Warum der Megatrend Urbanisierung nur auf den ersten Blick überrascht

Auch wenn der Gedanke, in Zeiten einer Pandemie die Landflucht anzutreten, naheliegend ist, spricht das Zukunftsinstitut von einer gegenteiligen Entwicklung. Der Megatrend Urbanisierung verzeichnet kontinuierlich steigende Zahlen. Und dafür gibt es gute Gründe. Unter anderem, dass diejenigen, die in die City ziehen, die ländliche Idylle ein- und in der Stadt wieder auspacken, ihr Umfeld also an ihre Bedürfnisse anpassen. Die neue Urbanität umfasst beispielsweise Urban-Farming-Initiativen, eine vertikale Verdichtung, die alle Bereiche des täglichen Lebens ins nahe Umfeld rückt und das 15-Minuten-Stadt-Konzept, das den Fokus auf die Nachbarschaft und soziale Kontakte legt. Außerdem werden die Städte dank zukunftsweisender Planung sozialer, klimagerechter und gesünder.

Geht in die richtige Richtung: Hanging Wally von Finestgreen nutzt, wie die Architektur der Zukunft, den Platz nach oben. Und folgt dem Trend Urban Gardening

Sogenannte „condensed spaces“ entsprechen dem wachsenden Wunsch nach einem minimalistischen Wohnkonzept: kleiner Wohnraum, große Lebensqualität. Diese Idee schätzen vor allem moderne und digitalen Nomaden, denn mehr Quadratmeter bedeuten auch höhere Kosten und Aufwand. Micro-Housing und das Co-Living-Prinzip ermöglichen selbst bei begrenzten Mitteln im Idealfall einen Zweitwohnsitz auf dem Land. Im Umkehrschluss erklärt das Pendeln auch die „Verstädterung“ des Landes: Denn Stadtmenschen verbreiten automatisch ihr urbanes Mindset in der ländlichen Region. Die Grenzen werden so immer fließender und Lebensräume sind vielmehr eine Frage der Einstellung als räumlich definiert.

Van B ist eine innovative Mischung aus multifunktionaler und anpassungsfähiger Raumnutzung, einem Indoor-Outdoor-Wohngefühl und einem Sinn für Gemeinschaft“, so Architekt Ben van Berkel von UNStudio Amsterdam über das Münchner Wohnbauprojekt Van B. Bild: Bauwerk

Mehr zum Thema  „Megatrends“ und das ganze Gespräch von Harry Gatterer und Markus Schüller lesen Sie →hier